Neue Züricher Zeitung - Thomas Burkhalter // 11.08.2006

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11. August 2005 02:03, NZZ Online
Die imaginierte Musik einer gepflegten Metropole
Istanbuls Musikszene als Trumpf im Wettkampf unter den Global Cities


Die imaginierte Musik einer gepflegten Metropole
Istanbuls Musikszene als Trumpf im Wettkampf unter den Global Cities
Istanbul soll sich als moderne Metropole geben, die Orient und Okzident verbindet, als ein gefälliges Zentrum, das nichts zu tun hat mit den schmutzigen Rändern. Diese Vision der Stadtplaner und Tourismusförderer zeigt sich auch in der Musikszene. ...

Istanbul soll sich als moderne Metropole geben, die Orient und Okzident verbindet, als ein gefälliges Zentrum, das nichts zu tun hat mit den schmutzigen Rändern. Diese Vision der Stadtplaner und Tourismusförderer zeigt sich auch in der Musikszene.

Es knistert aus den Lautsprechern. Eine Archivaufnahme mit kurdischer Musik ertönt. Lärm von der nahe gelegenen Hauptverkehrsachse und billig produzierte Pop-Sounds, die in einem Raum nebenan gehört werden, trüben zwar den Hörgenuss im Büro von Kalan Müzik. Dadurch aber lässt sich Riza Okcu, der Mitbegründer dieses Musiklabels, nicht beirren. Er legt eine zweite CD auf, diesmal erklingt jüdische Musik aus der Osttürkei: hebräische Gesänge zu türkischen Instrumenten. «Die Türkei ist ein Vielvölkerstaat», schwärmt Okcu, «hier leben Aleviten, Kurden, Juden, Armenier und viele andere Volksgruppen.»
Hartes Musikgeschäft

Kalan Müzik bietet grossartige Musik. Das Label passt damit nicht recht in die Umgebung. Die Firma nämlich mietet Räumlichkeiten im hässlichen Betonkomplex Umkapani 5, wo neunzig Prozent aller türkischen Musikfirmen untergebracht sind. Volksmusiker und Popsängerinnen aus dem ganzen Land hausieren mit Demoaufnahmen. Zumeist produzieren sie hier zu überrissenen Preisen Musik für den Müll. Ein bunter CD- und Kassetten-Basar bietet sich dem Auge; indessen handelt es sich um ein hartes, mafiaähnliches Geschäft.

Das Istanbul, das sich spätestens seit den achtziger Jahren kontinuierlich zu einer Stadt des Handels, der Dienstleistung, der Bildung und des Tourismus entwickelt hat und sich nun im Wettkampf der global cities als wichtigen Aktor positionieren will, ist hier in Umkapani weit weg - kulturell wie geographisch. Stadtplaner, Wirtschaftsförderer und die Tourismusindustrie setzen lieber auf die gegenüberliegende Seite des Goldenen Horns - auf den sauber renovierten Stadtteil Beyoglu mit seinen zahlreichen Klubs und der Paradestrasse Istiklal Caddesi, der wichtigsten Flanier- und Shoppingmeile weit und breit.

Mit der modernen, kosmopolitischen Kultur Beyoglus will sich die Türkei heute im Ausland präsentieren. Wer in die EU will, braucht eine repräsentable Kulturszene, da sind sich alle einig. So hat etwa die Istanbuler Stiftung für Kultur und Kunst letzten Herbst in Berlin das Festival «Simdi Now» organisiert, an dem das Land mit Rapmusik, Ethno-Techno und Pop Werbung in eigener Sache machte - kräftig unterstützt von zahlreichen Sponsoren aus der türkischen Wirtschaft. Die Sache kann aber auch schiefgehen, wie die Berliner «taz» kürzlich berichtete: Bei der Berliner Ausstellung «Urbane Realitäten: Fokus Istanbul» sagte die Mehrheit der eingeladenen Istanbuler Künstler kurzfristig ab, weil sie sich nicht ernst genommen und als Goodwill-Botschafter für die Türkei instrumentalisiert fühlten.

Murat Beser, ein Musikkritiker bei der Tageszeitung «Cumhürriyet», beobachtet die kulturellen Entwicklungen. «Ab Ende der neunziger Jahre sind in Istanbul dank der finanziellen Hilfe der EU und der USA und dank Steuervergünstigungen zahlreiche Kulturorganisationen und Medienfirmen gegründet worden», erzählt er. «Heute hat sich das Kulturmanagement durchgesetzt. Musik wird nach internationalen Standards vermarktet und vertrieben.» Die Konzertplakate in der Istiklal Caddesi bestätigen Besers Aussagen. Besonders Festivals und Konzerte mit Popmusik werden heute von der multinationalen Mode-, Getränke- und Tabakindustrie gesponsert. Nachdem in der Türkei über Jahre fast ausschliesslich kommerzielle Popklänge von kurzer Halbwertszeit für ein breites Publikum produziert worden sind, soll heute Rock-, Punk-, Worldmusic- und DJ-Kultur mit Niveau für das neue Selbstverständnis Istanbuls und der Türkei herhalten.
Das neue Istanbul

Nirgends wird das neue Istanbul deutlicher hörbar als bei Doublemoon Records. Das Musiklabel hat sich in einem schicken Altbau auf mehreren Etagen eingemietet. Die Belegschaft - in der Mehrzahl Frauen - arbeitet in Grossraumbüros für das Label, für die hauseigene Festival- und Konzertagentur Pozitif, für die Lizenzabteilung RH Pozitif Publishing und für den Konzertbetrieb im eigenen Klub Babylon. Internationalen Standards folgend sowie mit viel Unternehmergeist und Enthusiasmus hat man die Querfinanzierung zum Florieren gebracht. Die Vision des Labels zeigt sich auf fast allen Produktionen - von den CD-Titeln über die Cover-Art bis zur Musik: «East meets West», «Bosporus Bridge» oder «Wonderland» heissen die Alben. Sie vermengen Klänge aus der Türkei mit Beats aus der westlichen Klubkultur.

Die Gruppe Orient Expression und Mercan Dede arbeiten etwa mit breit tragenden Gesangsmelodien, türkischen Saiteninstrumenten, Ney- Flöten, Darrabukka- und Rahmentrommeln, aber auch mit einem australischen Didgeridoo oder einer spanischen Gitarre. Sie verarbeiten Elemente aus der türkischen Volks- und Kunstmusik, Bläserfanfaren aus Südosteuropa und Bhangra aus Indien. So entsteht eine imaginäre türkische Musik, die Visionen einer besseren Welt vorträgt: eine Weltmusik zum Geniessen, ohne Stör- und Stressfaktoren, produziert auf internationalem Niveau für ein kulturinteressiertes Publikum, das sich vor allem in der gehobenen türkischen Mittelklasse und in Europa findet. Mit den Visionen der Stadtplaner und Tourismusmanager Istanbuls haben diese Sounds viel gemein. Mit den Realitäten Istanbuls weniger.

Beyoglu ist eine Insel, umgeben von einem unberechenbaren Ozean - dieses Gefühl vermitteln einem die Künstlerszene und die Eliten immer wieder, wenn sie über Istanbul sprechen. Hier das bürgerlich-individualistische, zivilisiert- geordnete Beyoglu, dort die ländlichen Aussenbezirke, in denen Anarchie, Bestechung und Betrug, Armut und Chaos herrschen. Früher galten Istanbuls Aussenviertel als Beispiele erfolgreicher Stadtentwicklung. Das Prinzip des «Gecekondu» - wer über Nacht vier Pfosten und ein Dach darüber aufstellen konnte, hatte das Recht, sich an diesem Ort niederzulassen - hatte dazu geführt, dass sich Einwanderer aus denselben anatolischen Dörfern oft nebeneinander einrichteten, womit dörfliche Strukturen und soziale Kontrolle erhalten blieben. Die Kriminalitätsrate lag dabei auf geringem Niveau. Heute sehen die Bewohner Beyoglus in den Aussenbezirken die Welt des Arabesken, eine Lebenskultur, die alle schlechten Manieren in sich zu vereinen scheint - Korruption, Vetternwirtschaft, Mafia, Schlepperei, Misogynie. Arabeske «Hinterwäldler» tanzen zu kitschiger Musik: zu heftig verzierenden Streichern, Synthesizer-Sounds aus den achtziger Jahren, Drum-Computern und theatralischem türkischem Gesang. Das Extrem erreicht diese Musik in der langen Tradition der transsexuellen Sängerinnen der Türkei: in Zeki Müren oder Bülent Ersöy etwa. Heute dringt aus den Gay- und Transsexuellen-Klubs in den dunkleren Seitengassen Beyoglus manchmal die türkische Version der Disco- Hymne «I Will Survive» auf die Strasse heraus - gesungen von Ajda Pekkan, der gegenwärtigen Diva der Szene.

Wenn Musiker wie Mercan Dede von der orientalischen Vergangenheit der Stadt träumen, blenden sie diese Seiten aus. Sie imaginieren eine saubere, gefällige Variante Istanbuls. Die Musik suggeriert, sie sei lokal; in Wahrheit verwendet sie aber jene «West-Ost»-Formel, die heute überall in der Welt erklingt, wenn urbane Musikstile mit Extrakten traditioneller Musik gewürzt werden - das ist der Kulturaustausch von Vertretern der gehobenen Mittelklasse, die Zugang zu global agierenden Produktions- und Vertriebsfirmen haben und so ihre Vision der Türkei in die Welt hinaustragen können.
Zellulitis-Crème und Rock'n'Roll

Die Erfolge von Mercan Dede und Doublemoon und das Interesse der Türkei, ein weltoffenes Istanbul zu zeigen, haben freilich auch positive Auswirkungen. Interessante Musiker erhalten heute plötzlich neue Chancen: etwa Siyasiyabend, ein Kollektiv aus dem osttürkischen Diyarbakir, das jahrelang auf der Strasse musizierte; jetzt hat das Ensemble im neuen Musikfilm «Crossing the Bridge - The Sound of Istanbul» des deutsch-türkischen Regisseurs Fatih Akin einen Auftritt (vgl. Kasten). Da sind ferner Rapper wie Sultan Tunc oder Ceza, die auf hohem Niveau Botschaften in ihre Mikrofone sprechen; sie werden heute dank internationalen Festivals und CD-Kompilationen von Doublemoon auch ausserhalb der Türkei gehört. Da ist die Sängerin Nil Karaibrahimgil, die einen eigenwilligen Ton in der türkischen Popmusik anschlägt. Diese «Björk der Türkei» singt mädchenhaft und selbstbewusst zugleich über Zellulitis-Crème, den Schönheitswahn türkischer Frauen und über ihren Liebhaber, dessen Liebe ihr eine Spur zu gross sei.

Für Riza Okcu von Kalan Müzik ist eines klar: «Die Türkei hat sehr viel zu bieten. Es wäre schade, wenn all die Zwischentöne zwischen arabeskem Kitsch und globalisierten Ethno-Beats vergessen würden.» Okcu hofft, dass die Türkei irgendwann in die EU aufgenommen wird - kulturell soll sich das Land aber nicht zu sehr anpassen: «Arbeiten, Essen, Schlafen und Sex ist doch alles, worum es in Europa heute noch geht. In Istanbul hingegen pulsiert das Leben in all seinen Sonnen- und Schattenseiten», sagt er und lächelt provokativ. «Die Angst, die Türken könnten nach einem EU-Beitritt massenweise nach Europa emigrieren, ist unbegründet. Es wird umgekehrt sein: Die Europäer werden Istanbul entdecken.»

Thomas Burkhalter

Links: www.kalan.com; www.doublemoon.com.tr; www.babazula.com; www.nilkaraibrahimgil.com.tr.tc; www.yerarti.net/ (Siyasiyabend); www.mercandede.com; www.orientexpressions.info; www.sultan-tunc.de; www.istanbulgay.com.

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